Montag, 10. Oktober 2016

schöne neue Welt


Nr. 2



Vorläufiger Belegungsplan: Casa de la buena vista

15.12.2016 – 10.1.2017

25.1.2017 – 15.2.2017







Schöne neue Welt



Es ist schon eigenartig. Man lebt 26 Jahre in einer Wohnung, hortet Sachen, hebt auf, was man vielleicht nochmal gebrauchen könnte, stopft alle Löcher, Schränke, Abstellräume und Keller voll – irgendwie merkt man nicht, dass man den Raum um sich herum immer enger macht, man begnügt sich mit kleiner werdenden Dimensionen, man hat ja Platz genug. Man opfert den Raum zehn Jahre alten Farbresten vom letzten Wohnungsstreichen, eingetrockneten Malfarben, alten hässlichen Kacheln, die in der Küche übrig geblieben sind und sonstigem Krimskrams, den man nicht mal mehr auf dem Flohmarkt hätte losbringen können. Eine Wohngemeinschaft der sehr speziellen Art.

Man kauft immer neue Bücher und weil 12 Quadratmeter Bücherregal nicht ausreichen, stellt man sie dann in die zweite Reihe, hinter die anderen. (Und man sieht nur die im Lichte, die im Dunklen sieht man nicht. Bildungsbürgertapete!)

Man bezieht 20 Jahre lang die SZ und den Spiegel (im Abo). Am Frühstückstisch kann man sie (SZ) nicht lesen, weil der Zusteller sie in den Briefkasten steckt (4 Stockwerke ohne Aufzug), doch man hat das Gefühl zu den Interessierten zu gehören, den Bildungshungrigen, die am Geschehen in Politik, Wirtschaft, FCB .... teilnehmen. Die Bücher kauft man bei der netten Frau Schulz in ihrem kleinen Buchladen um die Ecke (wir wollen ja schließlich nicht, dass die Innenstädte veröden) und man kann auch noch einen kleinen Schwatz mit ihr halten (sie hat zwei süße Katzen).

Meistens habe ich auch immer beim Tengelmann Sprudelwasser gekauft und hochgeschleppt (4. Stock ohne Aufzug)! Wir haben uns dann einen Sprudler gekauft, die Patrone muss man nur alle zwei Monate austauschen. (Vermutlich habe ich auch dazu beigetragen, dass Tengelmann jetzt pleite ist!)



Vor über sechs Jahren ist dann die Rossi eingezogen, natürlich auch mit allem was ihr lieb und teuer war, wer könnte es ihr verdenken! Mehr Buch, mehr Schrank, mehr Kleid, vor allem mehr Schuh! Jetzt haben wir Besteck für 36 Personen (aber nur einen Esstisch für maximal 8!). Überflüssige Töpfe und Pfannen haben wir in den Keller ausgelagert, wo schon ca. 100 Golfbälle, die dazugehörigen Schläger und die alte Puppenküche auf den Neuzugang gewartet haben.



Und dann kam das Projekt: wir sind dann mal weg, ein Jahr oder so. Es wurde eben Chile. Easy, klar, wir hauen den Hut drauf, der Kas is gspitzt, sind dann mal weg.

Und dann ging es los. Wohnung untervermieten, für ein Jahr. Doch wer will schon in eine Wohnung, vollgestopft mit Kleidern, Büchern, was auch immer, einziehen? Und dann begann das große Aufräumen, Wegwerfen, Befreien.

1000 Bücher weg (natürlich nicht alle, ein bisschen Bildungsbürgertum darf schon sein!), die guten zu Oxfam, die schlechten in den Papiercontainer. Das gleiche mit der Kleidung. Den Wein, den wir nicht mehr trinken konnten, haben wir im Keller in Sicherheit gebracht. Im Notfall haben ja die Nachbarn einen Kellerschlüssel. Als wir dann die Wohnung ausgeräumt hatten, war sie so schön wie lange nicht mehr!

Spiegel abbestellt. SZ jetzt nur noch online. Können wir jetzt immer und überall lesen – ohne vier Stockwerke runter laufen zu müssen. Bücher lesen wir jetzt auf dem Kindle und auf dem Tolino. Fernsehen nur online, die Tagesschau können wir uns jetzt immer ansehen, auch den Tatort. Hier, zigtausend km weg von zuhause, können wir uns die Welt so gestalten wie wir wollen. Interessant: Wir sind noch nicht mal eine Woche weg, aber die Nachrichten von und über Deutschland verlieren langsam an Bedeutung.

Allerdings haben wir eine Art von Maschinen-Overkill: 2 MacBook Air, 2 iPhone, 1 Kindle, 1 Tolino, 1 Samsung Tablet, 1 IPad, 2 lokale Handys kommen noch dazu. Na ja, ein Bücherregal wir es nicht füllen.

Als ich in den 70er Jahren nach Venezuela ging war man weit weg (das vor allem habe ich genossen!), heute ist man immer und überall da, wo man auch ist. Man ist verbunden, Email, WhatsApp, Skype, FaceTime, SMS, billiges Telefon. Man kommt dem allen nicht mehr aus! Auch schön, vielleicht auch nicht. Irgendwie sind wir nicht mehr weg, wenn wir weg sind, wir sind da und auch nicht. Man kann sich Welten basteln, Strickmuster des Seins neu erfinden. Ist das die Zukunft?

Alles kann man nicht basteln: Vermutlich habe ich hier den schönsten Arbeitsplatz der Welt, eine grandiose Aussicht – die mich manchmal vom Schreiben abhält. Vor meinem Balkon fliegt eine Schar Papageien vorbei und unten, auf dem Rio Cruzes, ziehen die Schwäne mit den schwarzen Hälsen ihre Jungen goss. Ganz real, ohne neue Internet-Brille. Hammer!

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