Nr. 2
Vorläufiger Belegungsplan: Casa de la buena vista
15.12.2016 – 10.1.2017
25.1.2017 – 15.2.2017
Schöne neue Welt
Es ist schon eigenartig. Man lebt
26 Jahre in einer Wohnung, hortet Sachen, hebt auf, was man vielleicht nochmal
gebrauchen könnte, stopft alle Löcher, Schränke, Abstellräume und Keller voll –
irgendwie merkt man nicht, dass man den Raum um sich herum immer enger macht,
man begnügt sich mit kleiner werdenden Dimensionen, man hat ja Platz genug. Man
opfert den Raum zehn Jahre alten Farbresten vom letzten Wohnungsstreichen,
eingetrockneten Malfarben, alten hässlichen Kacheln, die in der Küche übrig
geblieben sind und sonstigem Krimskrams, den man nicht mal mehr auf dem
Flohmarkt hätte losbringen können. Eine Wohngemeinschaft der sehr speziellen
Art.
Man kauft immer neue Bücher
und weil 12 Quadratmeter Bücherregal nicht ausreichen, stellt man sie dann in
die zweite Reihe, hinter die anderen. (Und
man sieht nur die im Lichte, die im Dunklen sieht man nicht. Bildungsbürgertapete!)
Man bezieht 20 Jahre lang die
SZ und den Spiegel (im Abo). Am Frühstückstisch kann man sie (SZ) nicht lesen,
weil der Zusteller sie in den Briefkasten steckt (4 Stockwerke ohne Aufzug),
doch man hat das Gefühl zu den Interessierten zu gehören, den Bildungshungrigen,
die am Geschehen in Politik, Wirtschaft, FCB .... teilnehmen. Die Bücher kauft
man bei der netten Frau Schulz in ihrem kleinen Buchladen um die Ecke (wir
wollen ja schließlich nicht, dass die Innenstädte veröden) und man kann auch
noch einen kleinen Schwatz mit ihr halten (sie hat zwei süße Katzen).
Meistens habe ich auch immer
beim Tengelmann Sprudelwasser gekauft und hochgeschleppt (4. Stock ohne
Aufzug)! Wir haben uns dann einen Sprudler gekauft, die Patrone muss man nur
alle zwei Monate austauschen. (Vermutlich habe ich auch dazu beigetragen, dass
Tengelmann jetzt pleite ist!)
Vor über sechs Jahren ist
dann die Rossi eingezogen, natürlich auch mit allem was ihr lieb und teuer war,
wer könnte es ihr verdenken! Mehr Buch, mehr Schrank, mehr Kleid, vor allem
mehr Schuh! Jetzt haben wir Besteck für 36 Personen (aber nur einen Esstisch
für maximal 8!). Überflüssige Töpfe und Pfannen haben wir in den Keller
ausgelagert, wo schon ca. 100 Golfbälle, die dazugehörigen Schläger und die
alte Puppenküche auf den Neuzugang gewartet haben.
Und dann kam das Projekt: wir
sind dann mal weg, ein Jahr oder so. Es wurde eben Chile. Easy, klar, wir hauen
den Hut drauf, der Kas is gspitzt, sind dann mal weg.
Und dann ging es los. Wohnung
untervermieten, für ein Jahr. Doch wer will schon in eine Wohnung, vollgestopft
mit Kleidern, Büchern, was auch immer, einziehen? Und dann begann das große
Aufräumen, Wegwerfen, Befreien.
1000 Bücher weg (natürlich
nicht alle, ein bisschen Bildungsbürgertum darf schon sein!), die guten zu
Oxfam, die schlechten in den Papiercontainer. Das gleiche mit der Kleidung. Den
Wein, den wir nicht mehr trinken konnten, haben wir im Keller in Sicherheit
gebracht. Im Notfall haben ja die Nachbarn einen Kellerschlüssel. Als wir dann
die Wohnung ausgeräumt hatten, war sie so schön wie lange nicht mehr!
Spiegel abbestellt. SZ jetzt
nur noch online. Können wir jetzt immer und überall lesen – ohne vier
Stockwerke runter laufen zu müssen. Bücher lesen wir jetzt auf dem Kindle und
auf dem Tolino. Fernsehen nur online, die Tagesschau können wir uns jetzt immer
ansehen, auch den Tatort. Hier, zigtausend km weg von zuhause, können wir uns
die Welt so gestalten wie wir wollen. Interessant: Wir sind noch nicht mal eine
Woche weg, aber die Nachrichten von und über Deutschland verlieren langsam an
Bedeutung.
Allerdings haben wir eine Art
von Maschinen-Overkill: 2 MacBook Air, 2 iPhone, 1 Kindle, 1 Tolino, 1 Samsung
Tablet, 1 IPad, 2 lokale Handys kommen noch dazu. Na ja, ein Bücherregal wir es
nicht füllen.
Als ich in den 70er Jahren
nach Venezuela ging war man weit weg (das vor allem habe ich genossen!), heute
ist man immer und überall da, wo man auch ist. Man ist verbunden, Email, WhatsApp,
Skype, FaceTime, SMS, billiges Telefon. Man kommt dem allen nicht mehr aus! Auch
schön, vielleicht auch nicht. Irgendwie sind wir nicht mehr weg, wenn wir weg
sind, wir sind da und auch nicht. Man kann sich Welten basteln, Strickmuster
des Seins neu erfinden. Ist das die Zukunft?
Alles kann man nicht basteln:
Vermutlich habe ich hier den schönsten Arbeitsplatz der Welt, eine grandiose
Aussicht – die mich manchmal vom Schreiben abhält. Vor meinem Balkon fliegt
eine Schar Papageien vorbei und unten, auf dem Rio Cruzes, ziehen die Schwäne
mit den schwarzen Hälsen ihre Jungen goss. Ganz real, ohne neue
Internet-Brille. Hammer!
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