27 Valparaíso
Valparaíso - bunt, verspielt |
In Valparaíso hatten wir ein B&B gebucht. Jonny und Adie
hatten uns zwar das IBIS empfohlen, später haben wir es uns auch angeguckt (gute
Lage!), aber Hotels mögen wir nicht so gerne. Die Komischen manchmal schon, 3 –
5 Sterne eher nicht. Gut, wir landeten problemlos mit Google Maps bei Sandra
und Ernst, so eine Art Villen-B&B, mit Pool, zwei Schäferhunden und einem
geilen Blick über die Stadt: Pontoval.
Aber halt nicht im Zentrum. Aber dafür gibt es die MICROS
(kleine Busse) und die colectivos (Linientaxis),
die überall hinfahren, wenn man sich auskennt.
Blick von Pontoval über die Stadt |
Pontoval - das B&B
haben wir bei Booking.com gefunden. Sah super aus. Aber man weiß ja eh nie so
genau, ob das alles wirklich so ist, wie das im Portal beschrieben ist. Wir
haben da in der Vergangenheit auch schon sehr schlechte Erfahrungen gemacht,
z.B. ein tolles Apartment in Verona, das dann in einer schrecklichen
Plattenbausiedlung war. Ganz anders in Valparaíso: eine wunderschöne Villa,
gelegen auf einem der über 40 Hügel Valparaísos, mit wunderbarem Blick auf den
Hafen und die Stadt. Ein mit viel Gefühl für Stil und Behaglichkeit
eingerichtetes Chalet. Sogar mit Pool. Wir baden oder schwimmen zwar nicht,
aber ein Kaffee oder Feierabendbier am Pool ist trotzdem immer schön. Fast zu
schön, um wahr zu sein. Das Haus gehört Sandra und Ernst. Sie Chilenin und er
Schweizer. Sie Ernährungsberaterin mit einem Faible für gutes Essen, er Schweizer,
Spanischlehrer aus einer Obsthandelsdynastie. Das hört sich spannend an, und nachdem
wir das erfahren hatten, war uns klar, warum wir das beste Wohlfühlfrühstück in
den 7 Monaten Chile serviert bekamen. Selbstgebackenes Vollkornbrot,
selbstgemachte Marmelade, selbstgebackener Apfelkuchen, an Ostern ein leckeres,
frisch gekochtes Ei. Wir waren nur für vier Tage in Valparaíso, aber wir kamen
ins Gespräch. Wir wollten für ein Jahr in eine andere Kultur eintauchen, was Anderes
kennenlernen. Naja, es war schon mit ein bisschen Aufwand verbunden: Kontakte
knüpfen, Anträge stellen, Wohnung mieten, Basisfinanzierung sichern etc. Im
Vergleich zu dem, was Ernesto und Sandra mit ihren Kindern gemacht haben, ist
noch mal eine ganz andere Nummer. Mit der ganzen Familie in einen anderen
Kontinent umsiedeln, den Beruf in der Schweiz aufgeben, ein große Haus kaufen
und umbauen und als Familie ein Bed-and-Breakfast führen. Respekt!
Eigentlich wollen wir,
wenn wir eine Stadt besuchen, immer direkt im Zentrum wohnen, damit es von der
letzten Bar nicht so weit nach Hause ist. Das kann bei so einer Oase natürlich
nicht der Fall sein. Aber mit Bus und collectivo (Sammeltaxi) und im Extremfall
Taxi ist das alles easy. Wir haben es genossen, nach den Ausflügen ins Zentrum
hierher zurückzukehren. Valparaíso ist aufregend aber nicht überall schön,
sicher, stilvoll und wohlriechend. All
das haben wir nach unseren Ausflügen hier gefunden. Danke!!!
Und wir wurden reingeworfen in das Gefühl, die Emotion, die
Sensation: Valparaíso! Irgendwie: der Hammer!!!
Das Micro hat uns in eine Stadt gespült, die es so
eigentlich nicht (mehr) geben kann: sterbend und ungemein lebendig, triste und
von Farben überquellend, laut und verloren in der Unhörbarkeit seiner
Hilferufe, verspielt, ernst, einfach fröhlich, hammerartig kreativ.
Kulturhauptstadt von Chile ist Valparaíso. Sicher zurecht. Kunst,
vielleicht Kultur, was auch immer, entfaltet sich meist nicht in den satten
Anwesen von Grünwald oder Staten Island, dort wird sie allenfalls konsumiert
(man kann sich ja auch angesagte Künstler leisten), Kunst entsteht immer nur in
der Spannung zwischen Wirklichkeit und Hoffnung, zwischen Sein und Haben,
Hoffnung und Verzweiflung. Genau dafür scheint Valparaíso die beste Brutstätte
zu sein.
Die Stadt Valparaíso kämpft gegen den wirtschaftlichen
Niedergang. Der einst wichtigste Hafen des Landes hat seine Vormachtstellung an
San Antonio verloren. Wenn man heute den großen Hafen von Valparaíso
überblickt, dann bewegen sich kaum noch die großen Kräne, wenige Schiffe warten
auf die Löschung ihrer Waren.
Der Hafen |
Dabei war Valparaíso einmal der wichtigste Hafen des
Kontinents auf der pazifischen Seite. Hier legten die Schiffe aus Europa zum
ersten Mal an, wenn sie die Magellan-Straße erfolgreich umrundet hatten. Die
Stadt war der wichtigste Umschlaghafen für Waren und Rohstoffe. Ein weiterer
herber Schlag war die Eröffnung des Panama-Kanals im Jahr 1914. Immer weniger
Schiffe kamen nach Valparaíso.
Offener Verfall - leere Hülle |
So verfällt auch die Stadt. Stolze Patrizierhäuser haben
aufgegeben, sie haben den Gräsern, Bäumen und Unkräutern ihre einst herrschaftlichen
Räume überlassen. Die UNESCO kann nur noch das Ensemble schützen – wie lange
noch? Nur wenige Orte lassen noch die einstige Größe und Bedeutung ahnen, z. B.
der Plaza Sotomayor.
Sotomayor |
Den Niedergang der Stadt, man fühlt ihn fast überall. Vor allem
in der Architektur. Häuser, die nur noch als Fassaden dem Kultursiegel der
UNESCO dienen.
Und die Stadt hat und hätte so viel zu bieten. Die einmalige
Lage der Stadt, die sich auf über 40 Hügeln in die steilen Hänge gegraben hat. Und
ein revolutionäres „Verkehrssystem“: die ascencores.
Die Aufzüge und Schrägaufzüge, eine Art vertikale Metro, wurden erstmals 1883
gebaut, um die hoch an den Hängen gelegenen Viertel besser erreichbar zu
machen. Technisch war das damals das non-plus-ultra, so wie heute vielleicht
eine Magnetschwebebahn. In den 1920er Jahren gab es davon bereits über 30.
Irgendwann hat man die „Aufzüge“ verkommen lassen, nicht mehr gepflegt. Heute
gibt es davon noch 15, manche werden gerade repariert und langsam erkennt man
auch das touristische Potential als Alleinstellungsmerkmal für die Stadt.
geniale Schrägaufzüge |
Die Stadt hat einiges hervorgebracht: Pinochet und Allende
sind beide dort geboren – ausgerechnet. Von Valparaíso aus hat Pinochet 1973 den
Staatsstreich organisiert, quasi unter den Augen von Pablo Neruda, für den
diese Stadt der schönste Ort auf dieser Welt war. Dort hat er sich, auch an
einem Hang mit großartigem Blick über den Hafen und auf das Meer, ein Haus
gekauft. La Sebastiana.
Wohnzimmer von Pablo Neruda |
Das ist heute
ein Museum. Hier spaziert man quasi hinein in das Leben eines der größten
Dichter, Nobelpreisträger, Lateinamerikas. Der Rundgang durch das Haus hat
etwas voyeurhaftes, ja, intimes. Irgendwie kommt man dem Menschen Neruda hier
näher als in seinen Werken. Alles in diesem Haus ist etwas besonders, aber eher
klein, nicht protzig, nicht ausladend, gedacht für kleinere Empfänge. Am
Esstisch hatten womöglich acht Personen Platz. Hätte schon auch gerne mal mit
Neruda an seinem Kamin gesessen. Man muss ja nicht immer reden – gemeinsam trinken
ist manchmal auch gut.
Pablo Neruda - Cafe del Poeta |
Von Valparaíso aus wurde Geschichte für Chile geschrieben,
von 1973 bis 1990 wurde das Land von einem Diktator beherrscht, eine 1970 demokratisch
gewählte Regierung weggebombt, der Präsident in den Selbstmord getrieben. Unzählige
Oppositionelle verschwanden in dieser Zeit – ein Unrechtsstaat. Und möglich war
dies alles nur durch die nachhaltige Unterstützung der USA. Pinochet konnte in
seinem Land noch bis 2006 einen eher friedlichen Lebensabend genießen.
Rossi und Allende |
Aber dieses Valparaíso kämpft. Kämpft gegen den Untergang,
den Verfall, die Tristesse.
Irgendwann muss sich jemand aufgelehnt haben, gegen den
Niedergang, den ersten Farbeimer gegen eine kaputte Hauswand geworfen haben, in
trister Verzweiflung. Und siehe da, die Stadt begann zu leben, zu atmen, die
Beklemmungen der Seele in Kreativität zu verwandeln. Immer mehr Farbe gelangte
in die Hände von Künstlern, manchmal von Verzweifelten oder Visionären.
Es wurde ein Stil geboren, Muralismo und
Graffiti, auch wilde, destruktive Schmierereien, Bildgeschichten und politische
Statements entfalteten sich zu einem neuen Bekenntnis: Valparaíso!
Diese Stadt gibt sich nicht auf. Sie kämpft mit Kunst und
Farbe, politisch, unpolitisch, künstlerisch. Vieles ist schön, manches fantastisch,
einiges banal, gelegentlich unsinnig.
WORST THAN TRUMP |
Ja, Einkommensquellen, Verdienstmöglichkeiten sind
weggebrochen. Alternativen? Tourismus, vielleicht? Tourismus, die geliebte und
gehasste Alternative zu den verlorenen Jobs? Auf einem sehr aktuellen Graffiti ist
zu lesen: TOURISM IS WORST THAN TRUMP –
no gentrification! Das ist natürlich Unsinn. Wir haben viele Barrios besucht, die touristischen und
die anderen, eher vergessenen. In machen Barrios hat der Tourismus
offensichtlich zu einem gewissen Wohlstand geführt. Mein Gott, was heißt schon
Wohlstand. Vielleicht so viel, dass der kubanische Künstler mit dem Verkauf
seiner ziemlich genialen Drucke einigermaßen überleben kann. Krank sollte er
aber eher nicht werden, dafür langt es dann doch nicht. Aber dort, wo die
Touristen zum Gucken, Essen und Trinken hingehen, dort stinkt es nicht mehr
nach Pisse, da gibt es gutes Essen, coole Bars, ja, auch ein paar Künstler, die
den Touristen mal was verkaufen können, z. B. mir.
Valparaíso scheint vor lauter Farbe zu explodieren. Viele
Häuser, alte wie neue, sind einfach nur bunt. Aber in manchen Stadtvierteln ist
alles bemalt, was für einen Pinsel oder eine Spraydose auch nur irgendwie
erreichbar ist. Hier gibt es alles, vom einfachen, eher primitiven Geschmiere
bis zu großer Kunst. Von Konzeptkunst bis zu politischen Statements, von alten
Geschichten bis zu einer neuen Interpretation der Wirklichkeit. Es werden
Mythen aufgearbeitet, Bilder der Ureinwohner neu in Szene gesetzt, die
Vergangenheit in Erinnerung gerufen.
Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass das
Malen und Bemalen der Häuser ein einziger Aufschrei gegen den Niedergang ist.
Gegen den unaufhörlichen Verfall großer Teile der Stadt, vor allem der alten
Stadt, die ja die wechselvolle Geschichte repräsentiert. Wenn eine marode
Fassade bunt ist, dann scheint der Verfall nicht ganz so schlimm, das Ende
bekommt zumindest einen fröhlichen Anstrich. Einstürzende Altbauten sind
gleichzeitig auch die Totengräber der Werke jener Künstler, die mit ihrer Kunst
eben jene Zeugen der Vergangenheit erhalten wollten.
Aber noch ist es nicht so weit. Heute ist die Stadt (noch)
eine Offenbarung an Urbanität, Kreativität, Internationalität, ein Ort für das
andere, nicht beschauliche Leben.
www.vinoval.de
Euer Reisebericht spiegelt viel von Euerem einzigartigen positiven Weltbild wieder.
AntwortenLöschenEs ist mir eine große Freude beim Lesen etwas davon mitzubekommen.
Viel Glück weiterhin
Ernst