Samstag, 29. April 2017

Valparaíso


27 Valparaíso



Valparaíso - bunt, verspielt
In Valparaíso hatten wir ein B&B gebucht. Jonny und Adie hatten uns zwar das IBIS empfohlen, später haben wir es uns auch angeguckt (gute Lage!), aber Hotels mögen wir nicht so gerne. Die Komischen manchmal schon, 3 – 5 Sterne eher nicht. Gut, wir landeten problemlos mit Google Maps bei Sandra und Ernst, so eine Art Villen-B&B, mit Pool, zwei Schäferhunden und einem geilen Blick über die Stadt: Pontoval. Aber halt nicht im Zentrum. Aber dafür gibt es die MICROS (kleine Busse) und die colectivos (Linientaxis), die überall hinfahren, wenn man sich auskennt.
Blick von Pontoval über die Stadt


Pontoval - das B&B haben wir bei Booking.com gefunden. Sah super aus. Aber man weiß ja eh nie so genau, ob das alles wirklich so ist, wie das im Portal beschrieben ist. Wir haben da in der Vergangenheit auch schon sehr schlechte Erfahrungen gemacht, z.B. ein tolles Apartment in Verona, das dann in einer schrecklichen Plattenbausiedlung war. Ganz anders in Valparaíso: eine wunderschöne Villa, gelegen auf einem der über 40 Hügel Valparaísos, mit wunderbarem Blick auf den Hafen und die Stadt. Ein mit viel Gefühl für Stil und Behaglichkeit eingerichtetes Chalet. Sogar mit Pool. Wir baden oder schwimmen zwar nicht, aber ein Kaffee oder Feierabendbier am Pool ist trotzdem immer schön. Fast zu schön, um wahr zu sein. Das Haus gehört Sandra und Ernst. Sie Chilenin und er Schweizer. Sie Ernährungsberaterin mit einem Faible für gutes Essen, er Schweizer, Spanischlehrer aus einer Obsthandelsdynastie. Das hört sich spannend an, und nachdem wir das erfahren hatten, war uns klar, warum wir das beste Wohlfühlfrühstück in den 7 Monaten Chile serviert bekamen. Selbstgebackenes Vollkornbrot, selbstgemachte Marmelade, selbstgebackener Apfelkuchen, an Ostern ein leckeres, frisch gekochtes Ei. Wir waren nur für vier Tage in Valparaíso, aber wir kamen ins Gespräch. Wir wollten für ein Jahr in eine andere Kultur eintauchen, was Anderes kennenlernen. Naja, es war schon mit ein bisschen Aufwand verbunden: Kontakte knüpfen, Anträge stellen, Wohnung mieten, Basisfinanzierung sichern etc. Im Vergleich zu dem, was Ernesto und Sandra mit ihren Kindern gemacht haben, ist noch mal eine ganz andere Nummer. Mit der ganzen Familie in einen anderen Kontinent umsiedeln, den Beruf in der Schweiz aufgeben, ein große Haus kaufen und umbauen und als Familie ein Bed-and-Breakfast führen. Respekt! 

Eigentlich wollen wir, wenn wir eine Stadt besuchen, immer direkt im Zentrum wohnen, damit es von der letzten Bar nicht so weit nach Hause ist. Das kann bei so einer Oase natürlich nicht der Fall sein. Aber mit Bus und collectivo (Sammeltaxi) und im Extremfall Taxi ist das alles easy. Wir haben es genossen, nach den Ausflügen ins Zentrum hierher zurückzukehren. Valparaíso ist aufregend aber nicht überall schön, sicher, stilvoll und wohlriechend.  All das haben wir nach unseren Ausflügen hier gefunden. Danke!!!


Und wir wurden reingeworfen in das Gefühl, die Emotion, die Sensation: Valparaíso! Irgendwie: der Hammer!!!

Das Micro hat uns in eine Stadt gespült, die es so eigentlich nicht (mehr) geben kann: sterbend und ungemein lebendig, triste und von Farben überquellend, laut und verloren in der Unhörbarkeit seiner Hilferufe, verspielt, ernst, einfach fröhlich, hammerartig kreativ.

Kulturhauptstadt von Chile ist Valparaíso. Sicher zurecht. Kunst, vielleicht Kultur, was auch immer, entfaltet sich meist nicht in den satten Anwesen von Grünwald oder Staten Island, dort wird sie allenfalls konsumiert (man kann sich ja auch angesagte Künstler leisten), Kunst entsteht immer nur in der Spannung zwischen Wirklichkeit und Hoffnung, zwischen Sein und Haben, Hoffnung und Verzweiflung. Genau dafür scheint Valparaíso die beste Brutstätte zu sein.




Die Stadt Valparaíso kämpft gegen den wirtschaftlichen Niedergang. Der einst wichtigste Hafen des Landes hat seine Vormachtstellung an San Antonio verloren. Wenn man heute den großen Hafen von Valparaíso überblickt, dann bewegen sich kaum noch die großen Kräne, wenige Schiffe warten auf die Löschung ihrer Waren.
Der Hafen

Dabei war Valparaíso einmal der wichtigste Hafen des Kontinents auf der pazifischen Seite. Hier legten die Schiffe aus Europa zum ersten Mal an, wenn sie die Magellan-Straße erfolgreich umrundet hatten. Die Stadt war der wichtigste Umschlaghafen für Waren und Rohstoffe. Ein weiterer herber Schlag war die Eröffnung des Panama-Kanals im Jahr 1914. Immer weniger Schiffe kamen nach Valparaíso.

Offener Verfall - leere Hülle


So verfällt auch die Stadt. Stolze Patrizierhäuser haben aufgegeben, sie haben den Gräsern, Bäumen und Unkräutern ihre einst herrschaftlichen Räume überlassen. Die UNESCO kann nur noch das Ensemble schützen – wie lange noch? Nur wenige Orte lassen noch die einstige Größe und Bedeutung ahnen, z. B. der Plaza Sotomayor.
Sotomayor



Den Niedergang der Stadt, man fühlt ihn fast überall. Vor allem in der Architektur. Häuser, die nur noch als Fassaden dem Kultursiegel der UNESCO dienen.

Und die Stadt hat und hätte so viel zu bieten. Die einmalige Lage der Stadt, die sich auf über 40 Hügeln in die steilen Hänge gegraben hat. Und ein revolutionäres „Verkehrssystem“: die ascencores. Die Aufzüge und Schrägaufzüge, eine Art vertikale Metro, wurden erstmals 1883 gebaut, um die hoch an den Hängen gelegenen Viertel besser erreichbar zu machen. Technisch war das damals das non-plus-ultra, so wie heute vielleicht eine Magnetschwebebahn. In den 1920er Jahren gab es davon bereits über 30. Irgendwann hat man die „Aufzüge“ verkommen lassen, nicht mehr gepflegt. Heute gibt es davon noch 15, manche werden gerade repariert und langsam erkennt man auch das touristische Potential als Alleinstellungsmerkmal für die Stadt.
geniale Schrägaufzüge

Die Stadt hat einiges hervorgebracht: Pinochet und Allende sind beide dort geboren – ausgerechnet. Von Valparaíso aus hat Pinochet 1973 den Staatsstreich organisiert, quasi unter den Augen von Pablo Neruda, für den diese Stadt der schönste Ort auf dieser Welt war. Dort hat er sich, auch an einem Hang mit großartigem Blick über den Hafen und auf das Meer, ein Haus gekauft. La Sebastiana
Wohnzimmer von Pablo Neruda
Das ist heute ein Museum. Hier spaziert man quasi hinein in das Leben eines der größten Dichter, Nobelpreisträger, Lateinamerikas. Der Rundgang durch das Haus hat etwas voyeurhaftes, ja, intimes. Irgendwie kommt man dem Menschen Neruda hier näher als in seinen Werken. Alles in diesem Haus ist etwas besonders, aber eher klein, nicht protzig, nicht ausladend, gedacht für kleinere Empfänge. Am Esstisch hatten womöglich acht Personen Platz. Hätte schon auch gerne mal mit Neruda an seinem Kamin gesessen. Man muss ja nicht immer reden – gemeinsam trinken ist manchmal auch gut.
Pablo Neruda - Cafe del Poeta



Von Valparaíso aus wurde Geschichte für Chile geschrieben, von 1973 bis 1990 wurde das Land von einem Diktator beherrscht, eine 1970 demokratisch gewählte Regierung weggebombt, der Präsident in den Selbstmord getrieben. Unzählige Oppositionelle verschwanden in dieser Zeit – ein Unrechtsstaat. Und möglich war dies alles nur durch die nachhaltige Unterstützung der USA. Pinochet konnte in seinem Land noch bis 2006 einen eher friedlichen Lebensabend genießen.

Rossi und Allende


Aber dieses Valparaíso kämpft. Kämpft gegen den Untergang, den Verfall, die Tristesse.



Irgendwann muss sich jemand aufgelehnt haben, gegen den Niedergang, den ersten Farbeimer gegen eine kaputte Hauswand geworfen haben, in trister Verzweiflung. Und siehe da, die Stadt begann zu leben, zu atmen, die Beklemmungen der Seele in Kreativität zu verwandeln. Immer mehr Farbe gelangte in die Hände von Künstlern, manchmal von Verzweifelten oder Visionären.

Es wurde ein Stil geboren, Muralismo und Graffiti, auch wilde, destruktive Schmierereien, Bildgeschichten und politische Statements entfalteten sich zu einem neuen Bekenntnis: Valparaíso!

Diese Stadt gibt sich nicht auf. Sie kämpft mit Kunst und Farbe, politisch, unpolitisch, künstlerisch. Vieles ist schön, manches fantastisch, einiges banal, gelegentlich unsinnig.

WORST THAN TRUMP
Ja, Einkommensquellen, Verdienstmöglichkeiten sind weggebrochen. Alternativen? Tourismus, vielleicht? Tourismus, die geliebte und gehasste Alternative zu den verlorenen Jobs? Auf einem sehr aktuellen Graffiti ist zu lesen: TOURISM IS WORST THAN TRUMP – no gentrification! Das ist natürlich Unsinn. Wir haben viele Barrios besucht, die touristischen und die anderen, eher vergessenen. In machen Barrios hat der Tourismus offensichtlich zu einem gewissen Wohlstand geführt. Mein Gott, was heißt schon Wohlstand. Vielleicht so viel, dass der kubanische Künstler mit dem Verkauf seiner ziemlich genialen Drucke einigermaßen überleben kann. Krank sollte er aber eher nicht werden, dafür langt es dann doch nicht. Aber dort, wo die Touristen zum Gucken, Essen und Trinken hingehen, dort stinkt es nicht mehr nach Pisse, da gibt es gutes Essen, coole Bars, ja, auch ein paar Künstler, die den Touristen mal was verkaufen können, z. B. mir.


Die gestalterische Kreativität von Valparaíso ist zu einer Marke von unschätzbarem Wert geworden, u. a. Kulturhauptstadt Chiles. Hammer, immerhin! Das ist nicht nur das institutionalisierte Graffiti-Programm. Das ist das sich einbringen unter der Schwelle des kommerziellen Engagements in Musik, Theater und sonstigen Künsten. Auf dem Platz Hanibal Pinto treffen sich jeden Freitag Leute zum Tango-Tanzen. (Das sind manchmal die Momente, wo ich wünschte auch ich könnte tanzen – geht aber schnell wieder vorbei!)
Valparaíso scheint vor lauter Farbe zu explodieren. Viele Häuser, alte wie neue, sind einfach nur bunt. Aber in manchen Stadtvierteln ist alles bemalt, was für einen Pinsel oder eine Spraydose auch nur irgendwie erreichbar ist. Hier gibt es alles, vom einfachen, eher primitiven Geschmiere bis zu großer Kunst. Von Konzeptkunst bis zu politischen Statements, von alten Geschichten bis zu einer neuen Interpretation der Wirklichkeit. Es werden Mythen aufgearbeitet, Bilder der Ureinwohner neu in Szene gesetzt, die Vergangenheit in Erinnerung gerufen.


Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass das Malen und Bemalen der Häuser ein einziger Aufschrei gegen den Niedergang ist. Gegen den unaufhörlichen Verfall großer Teile der Stadt, vor allem der alten Stadt, die ja die wechselvolle Geschichte repräsentiert. Wenn eine marode Fassade bunt ist, dann scheint der Verfall nicht ganz so schlimm, das Ende bekommt zumindest einen fröhlichen Anstrich. Einstürzende Altbauten sind gleichzeitig auch die Totengräber der Werke jener Künstler, die mit ihrer Kunst eben jene Zeugen der Vergangenheit erhalten wollten.


Aber noch ist es nicht so weit. Heute ist die Stadt (noch) eine Offenbarung an Urbanität, Kreativität, Internationalität, ein Ort für das andere, nicht beschauliche Leben.


































www.vinoval.de

1 Kommentar:

  1. Euer Reisebericht spiegelt viel von Euerem einzigartigen positiven Weltbild wieder.
    Es ist mir eine große Freude beim Lesen etwas davon mitzubekommen.
    Viel Glück weiterhin
    Ernst

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